U23 Europameisterschaft in Tallinn/EST: Zehnkampf-Krone für Andreas Bechmann - beeindruckender "Bronze-Spurt" von Lisa Oed

  12.07.2021    Leistungssport Wettkampfsport

Andreas Bechmann hat seine Vorhersage in die Tat umgesetzt. „Wenn ich für Tallinn vom DLV nominiert werde und der Fuß hält, kann ich dort den EM-Titel holen“, prognostizierte der Eintracht-Athlet kurz nach dem Ende des Zehnkampfes von Ratingen. In Estland wurde Bechmann, der mit 7955 Punkten als Führender der Meldeliste angereist war, seiner Favoritenrolle vollauf gerecht. Nach zwei Tagen hatte der Student satte 8142 Zähler auf der Habenseite angesammelt, holte damit den Titel und steigerte seine persönliche Bestmarke aus dem Jahr 2019 um genau zehn Punkte. Silber ging an den Niederländer Sven Roosen (8056 Pkt.), Dritter wurde mit Landesrekord der Norweger Markus Rooth (7967 Pkt.).

Bechmann ging im dritten und schnellsten 100-Meter-Rennen in den Starblock und zeigte hier zum Auftakt solide 10,91 Sekunden. Eine Zeit, die in Zukunft noch Verbesserungspotential hat. Gleich in der zweiten Disziplin wäre die EM für den Frankfurter fast beendet gewesen. Nach zwei ungültigen Sprüngen musste es im dritten Durchgang dann klappen. Zwischen die Spitze des Spikes und die Plastilin-Masse am Absprungbalken passte kein Millimeter mehr, so dass die weiße Fahne hochging. Als dann die neue persönliche Bestweite von starken 7,72 Metern aufleuchtete, war Bechmann wieder voll im Geschäft und rückte auf Platz zwei der Zwischenwertung vor. Voll motiviert vom Weitsprung-Krimi legte Andreas in Sachen „PB“ mit der Kugel gleich nach, steigerte sich hier um 43 Zentimeter auf 15,81 Meter und ging damit in Führung.

Bei der Höhenjagd plagten den deutschen Spitzenreiter dann wieder Schmerzen im linken Sprunggelenk, die ihn bereits in Ratingen behinderten und zuvor in Götzis/AUT zur Aufgabe zwangen. Trotzdem schwang sich Andreas über starke 2,02 Meter, verzichtete auf weitere Höhen und baute trotzdem seine Führung weiter aus. Die hatte auch nach den 400 Metern zum Ende des ersten Tages noch Bestand. Der Eintrachtler lief das Rennen ziemlich flott an und wurde am Ende der Stadionrunde noch von dem Holländer Sven Roosen (47,47 sec.) abgefangen, brachte als Zweiter aber gute 47,90 Sekunden in die Wertung. „Dem Fuß geht’s nicht gut, das wusste ich vorher schon, das ist kein Geheimnis. Ich habe dort ein Knochenmark-Ödem und schaue jetzt von Disziplin zu Disziplin. Ich habe heute gezeigt, was ich kann. Und ich würde mich freuen, den Titel wieder nach Deutschland zu holen. Aber das ist Zehnkampf, da kann alles passieren“, so Bechmann nach dem Ende des ersten Tages gegenüber dem Portal leichtathletik.de

Die „zweite Halbzeit“ läutete der Eintrachtler mit eher schwachen 15,51 Sekunden ein. Ganz klar, der Hürdensprint ist nach wie vor eine Baustelle. Trotzdem reichte die Zeit, um in Führung zu bleiben. Ganz anders sah es da schon beim Diskuswerfen aus. Hier baute  Bechmann mit der neuen Bestweite von 42,51 Metern seine Führung gegenüber den Verfolgern sogar leicht aus. Beim Stabhochsprung hätte Andreas Bechmann gerne einmal wieder eine Fünferhöhe in die Wertung gebracht. Das funktionierte aber leider nicht. Für das Protokoll wurden 4,90 Meter notiert. Die Gesamtführung blieb trotzdem bei dem Hessen, obwohl Baptiste Thiery (FRA) mit überquerten 5,60 Metern (!) reichlich Boden gutmachte. Beim Speerwerfen markierte der Schützling von Erfolgs-Coach Jürgen Sammert 55,02 Meter. Damit war ein Endresultat im Bereich von 8100 Punkten machbar. Zudem bedeuteten knapp 200 Punkte Vorsprung vor den abschließenden 1500 Metern ein solides Polster in Sachen EM-Gold. Mit 4:40,44 Minuten sorgte der 22-Jährige aus der Mainmetropole dafür, dass in der zehnten Disziplin nichts mehr anbrennte. Sven Roosen (NED) hatte hier mit 4:25,38 Minuten nochmals Druck gemacht, konnte das Gesamtklassement aber nicht mehr umwerfen.

Für einen echten Überraschungs-Coup sorgte über 10.000 Meter Lisa Oed (SSC Hanau-Rodenbach), die vor der EM von der Papierform her nicht zu den Anwärterinnen auf Edelmetall gehörte. Bereits nach ungefähr fünf Runden lösten sich Jasmin Lau (NED) und Anna Arnaudo (ITA) vom Rest des 28-köpfigen Feldes und machten den Titel unter sich aus. Am Ende war es die Niederländerin, die sich mit beeindruckenden 32:30,49 Minuten den Titel vor Arnaudo (32:40,43 min.) holte. Richtig spannend wurde der Kampf um die Bronze-Medaille. Dafür war dann nämlich Lisa Oed (mit)verantwortlich. Die Rodenbacherin war immer im vorderen Drittel des Feldes mit dabei und hatte sich ihre Körner wohl gut eingeteilt. Die Athletinnen vor Oed wurden in der Endphase langsamer, so dass der dritte Platz in greifbare Nähe rückte. Auf dieser Position lief bis eine Runde vor dem Ende Gaia Colli. Doch während der Italienerin die Kräfte schwanden, lief Oed einen knüppelharten langen Spurt, fing Colli noch ab und konnte nach ihrem Titel über die 2000 Meter Hindernis (EM 2017) nun eine weitere internationale Medaille bejubeln. Das Lisa mit 33:35,99 Minuten ihren Hausrekord um über 30 Sekunden steigern konnte, war noch das Sahnehäubchen. „Ich bin total überrascht. Die letzten anderthalb Jahre waren bei mir eine Berg- und Talfahrt. Aber mein Trainer hat schon letztes Jahr zu mir gesagt: Bei der U23 EM holen wir eine Medaille. Ich habe nicht damit gerechnet. Er dachte wahrscheinlich auch eher über die Hindernisse. Und jetzt stehe ich hier mit Bronze und muss sagen: Mein Trainer hatte Recht“, bilanziert die 22-Jährige, die sich der Gruppe von Trainer Wolfgang Heinig angeschlossen hat.

Mit Eva Dieterich drehte noch eine weitere Hessin ihre Runden auf der längsten Bahndistanz. Die Athletin vom Laufteam Kassel meldete sich als Sechste nach langwierigen Verletzungsproblemen mit 33:56,30 Minuten erfolgreich im Wettkampfgeschehen zurück. „Mit den vielen Überrundungen wurde es ziemlich unübersichtlich, irgendwann haben wir erfahren, dass wir nur zehn Sekunden hinter Platz drei zurückliegen. Da habe ich versucht, Tempo zu machen, ich wusste, dass Lisa dran bleibt. Am Ende hat die Kraft leider nicht gereicht. Aber ich war ziemlich lange verletzt, mit Achillessehnen-Beschwerden, und habe erst vor drei Wochen wieder angefangen zu laufen. Für die kurze Vorbereitungszeit ist das Ergebnis in Ordnung“, so Dieterich in ihrem EM-Fazit.

Mit EM-Bronze kehrte dann noch ein „halber Hesse“ aus Estland zurück. Johannes Nortmeyer aus der Maintaunus-Gemeinde Niederhofheim, der studienbedingt für den USC Mainz startet, war der Startläufer der 4x400-Mater-Staffel, die in 3:06,42 Minuten Bronze holte. Das DLV-Quartett profitierte aber von der Disqualifikation der Niederländer, ohne jedoch in die Rempelei auf dem dritten Teilstück verwickelt gewesen zu sein. Unter normalen Umständen hätte es hier keine deutsche Medaille gegeben, da durch die Unsportlichkeit der Niederländer die Langsprinter der Briten und der Schweiz stürzten. „Nach Platz sieben in den Vorläufen haben wir überhaupt nicht mit einer Medaille gerechnet. Aber nun haben wir sie“, bestätigte Startläufer (47,69 sec.) Nortmeyer.

Das hatte sich Sven Wagner (Königsteiner LV) wahrlich anders vorgestellt. Dem Mittelstreckler war klar, dass er bei der EM hellwach sein muss, um eventuell die Vorläufe zu überstehen. Die Vorleistungen stimmten auf jeden Fall. Wagner hatte einige gute Rennen im Vorfeld der Titelkämpfe, steigerte dabei seinen „Hausrekord“ auf starke 3:40,92 Minuten und holte sich zuletzt in Koblenz die deutsche Vizemeisterschaft. Die Vorgabe lautete nun: Einen Platz unter den Top-Vier erreichen oder zu den drei Zeitschnellsten gehören, um in den Endlauf einzuziehen. Der dritte Vorlauf wurde relativ ruhig angelaufen mit einer Durchgangszeit von 2:08,15 Minuten bei 800 Metern. Somit lagen die elf Athleten hier noch recht dicht zusammen. Trotzdem war der Lauf unruhig, da jeder im Feld seine Position suchte. Die ständigen Positionswechsel, auch zwischen Innen- und Außenbahn, kosteten wohl einiges an Kraft. Als dann vorne die Post abging, konnte Wagner nicht mitgehen und musste das Feld ziehen lassen. Mit 3:52,60 Minuten blieb der 19-jährige Psychologie-Student als Letzter deutlich unter seinen Möglichkeiten. Schnell einen Haken an den EM-Auftritt machen, unter „Erfahrung sammeln“ verbuchen und an die Zukunft denken. Denn auch bei der nächsten U23-Europameisterschaft ist Wagner noch startberechtigt.

Auch Oskar Schwarzer, der zweite hessische Mittelstreckler in Estland, hatte kein Glück. Der 800-Meter-Spezialist im Trikot des TV Groß-Gerau kam fast nicht ins Ziel. In seinem Lauf lag Schwarzer nach der ersten Runde hinter Finley McLear (GBR) aussichtsreich auf dem zweiten Platz. Dann zog der Italiener Simone Barantoni das Tempo an und Oskar ging mit. Rund 200 Meter vor dem Ziel war der Hesse dann plötzlich eingekesselt. Der Engländer machte die zweite Bahn „zu“ und von hinten drückten die aufrückenden Konkurrenten. Der angehende Polizist wollte sich aus dieser Position befreien und kam dabei ins Stolpern und stürzte. Auch Anicet Kozar (FRA) war von dem Gedrängel betroffen. Beide rafften sich nach dem Sturz wieder auf und joggten mit einer 2:28er Zeit weit abgeschlagen ins Ziel. Ein Protest der deutschen Team-Leitung blieb jedoch ohne Erfolg.

erstellt von Text & Fotos: Jens Priedemuth