Werte, Probleme und Zukunftsperspektiven der Leichtathletik

  13.12.2022    HLV 75 Jahre HLV Verbandsnews
Vortrag anlässlich des Jubiläums "75 Jahre Hessischer Leichtathletik-Verband" am 8. Mai 2022 Bad Nauheim von Dr. Franz-Josef Kemper

Herzlichen Glückwunsch zum 75. Geburtstag!!!

Glückwunsch dem Verband und all denjenigen, die ihn diesen Jahrzehnten getragen haben und ihn heute noch tragen!

Ich habe den Auftrag, keine „Festrede“ über die Geschichte und die Geschicke des HLV in diesem ¾ Jahrhundert zu halten. Mir ist das sehr recht, da wahrscheinlich die Hälfte derjenigen, die hier im Saal sitzen, dieses besser könnten als ich, weil sie viele persönliche und institutionelle Erfahrungen in und mit dem Verband in der Vergangenheit hatten und haben.

Komme gerne der Bitte nach, problemorientiert, aber auch zukunftsweisend einige analytische Bemerkungen zur Leichtathletik zusammen zu tragen.

Mein winziger Vorteil ist, dass ich ein Jahr älter bin als der HLV. Insofern, falls das kein zu großes Wort ist, bin ich auch ein Zeitzeuge der Leichtathletik zumindest in den letzten 6 Jahrzehnten. Könnte z.B. von den gravierenden Unterschieden in der LA der 60er Jahre des vergangenen Jahrhunderts im Vergleich zu heute erzählen. Könnte davon erzählen, wie ich 1964 mit 50 DM in der Tasche (mehr Zuschuss war für einen kleinen DJK-Verein nicht drin) für 4 Tage Deutsche LA-Meisterschaften nach Berlin getrampt bin, im VW eines Onkels übernachtet habe, dann nach Vor- und Zwischenlauf als völlig Unbekannter im Finale als Zweiter nur knapp gegen Manfred Kinder verloren habe, weil mir das Schicksal das Talent zum Mittelstreckenlauf geschenkt hat. Ich wäre überrascht, wenn heute solche Karriereanfänge noch passieren würden. Die Zeiten sind, so denke ich, inzwischen völlig andere.

Ich kann hier heute auch keine Patentrezepte ausbreiten, aber die Frage ist schon wichtig, ob die LA ein dopingverseuchter, hochkommerzieller Zirkussport ist oder wird (einige Blicke in die Medienberichterstattung könnten dies manchmal nahe legen) oder ob sie für Kinder, Jugendliche und Erwachsene eine wichtige Grundsportart ist und bleibt, die für die Gesellschaft unverzichtbar ist. Ebenso die Frage, wie wir sie in diese Richtung weiter entwickeln können; sei es als Wettkampf- oder Breitensport, in Schule und Verein, aber auch in freien Formen, nicht zuletzt in der Laufbewegung.

Die LA ist weiterhin ohne Zweifel die Königsdisziplin der Olympischen Spiele. Das schützt sie allerdings nicht vor Fehlentwicklungen (ganz im Gegenteil!), aber es gibt ihr zugleich die Chance, mit großer Breitenwirkung Volkssport zu bleiben oder noch stärker zu werden.

Ich will beginnen mit einigen Feststellungen über die Werte und Funktionen der LA; wende mich dann mehreren zentralen Problemen zu, die sich ca. seit den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts immer gravierender entwickelt haben (Kommerzialisierung, Doping, aufweichende Mitgliederbindung) und möchte dann im letzten Teil meines Vortrages die Strategien für eine erfolgreiche Zukunft unseres Sportes in den Blick nehmen.

Was sind die Werte der Leichtathletik?

Die LA ist die Basis für nahezu alle anderen Sportarten. Laufen, Springen, Werfen und Stoßen sind die Grundelemente fast aller Individual- und Mannschaftssportarten. (Außer einigen wie Schwimmen oder Reiten z.B.). Die elementaren Bewegungsformen der leichtathletischen Disziplinen bilden auch die pädagogischen Grundlagen für eine ganzheitliche körperliche Erziehung von Kindern und Jugendlichen. Ein Stück weit scheint es in der Natur von Kindern zu liegen, sich im Laufen, Springen und Werfen miteinander zu vergleichen. Jeder von Ihnen wird schon beobachtet haben, dass schon Kleinkinder, ohne dass sie jemand dazu auffordert, um die Wette rennen oder versuchen, sich im Steinewerfen zu übertreffen.

Die elementaren Bewegungsformen der LA sind leicht zu vergleichen und zu messen und sie sind im Wettkampf- und Leistungssport für jeden Zu- schauer leicht verständlich.

Leistungen in manchen Sportarten können oft nur noch von Experten wirklich gewürdigt werden, in der LA zählen, für jeden nachvollziehbar, Meter und Sekunde. Objektivität, Exaktheit, Vergleichbarkeit und Durchsichtigkeit der Rangfolge sind wichtige Werte der LA.

Wer wollte bestreiten, dass leichtathletische Wettkämpfe faszinierend und spannend sein können. Ihre Dramatik ist in ihrer Struktur angelegt. Beim Kampf Mann gegen Mann und Frau gegen Frau ist das Ergebnis von der ersten bis zur letzten Sekunde nachvollziehbar. Das ist z.B. beim Dressurreiten oder in der Wettkampfgymnastik deutlich anders, nicht zuletzt durch oft schwer durchschaubare Kampfrichterbewertungen.

Die pädagogischen Werte der LA als Wettkampfsport liegen nicht zuletzt darin, dass es zum Erreichen individueller Höchstleistungen unabdingbar ist, sich anzustrengen und langfristig zu üben, freiwillig viel zu lernen, die Befriedigung von Bedürfnissen hinauszuschieben, sich mit Trainern und Übungsleitern konstruktiv auseinanderzusetzen, Regeln einzuhalten und im Wettkampf fair mit seinen Gegnern zu streiten (dies gilt natürlich auch für viele andere Sportarten).

Vor fast allen anderen Sportarten zeichnet sich die LA durch ihre Universalität aus. Ca. 200 nationale Verbände weltweit zeigen die Verbreitung unserer Sportart. Lokale, regionale, nationale und kontinentale Meisterschaften sind überall zu finden und fast überall treten viele Konkurrenten/innen gegeneinander an. Helmut Digel hat das einmal so bezeichnet: „Wer den Weltmeistertitel im 400m-Lauf erringt, ist wahrlich ein Weltmeister.... Ein Sieger in der LA ist immer ein Sieger auf den Schultern von vielen“. Im Gegensatz dazu bewegen sich z.B. die vielen (insbesondere deutschen) WM-Titel und Olympiasiege im Rodeln oder Bobfahren in einer eng begrenzten Blase, nicht zuletzt gestützt durch eine hochentwickelte und kostenintensive Technik. Die LA dagegen ist kostengünstig, flexibel und für alle geeignet.

Die Faszination der LA und ihre weltweite mediale Verwertung trägt aber auch den Kern der negativen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte in sich: Immer heftigerer Kommerz, vor allem im Hochleistungsbereich, stark gestiegener Erfolgsdruck auf die Athleten/innen (und natürlich auch die Verbände), daraus resultierend die allgegenwärtige Dopingproblematik, der medikamentöse Betrug und die medizinische Manipulation der Sportler, die Verletzung des Fair Play, und nicht zuletzt die Duldung oder Verharmlosung dieser negativen Erscheinungsformen und Delikte beim Publikum, in den Medien, aber auch bei manchen Funktionsträgern in Verbänden und Vereinen.

Eine wesentliche Ursache dieser Probleme liegt in der Struktur des Hoch-leistungs- und Spitzensports, wie er sich in den vergangenen Jahrzehnten entwickelt hat. In seiner Logik liegt es, ständig die Leistungen zu steigern und und die Gewinne nach ökonomischen Prinzipien zu verteilen. Man muss nicht soweit gehen, wie Helmut Digel sich kürzliche äußerte, der den Hochleistungssport in einem Prozess der Selbstzerstörung sieht. Aber es ist kaum zu bezweifeln, dass der Aufwand für Training, Physiotherapie, medizinische Betreuung etc. immer aufwändiger wird und mögliche Erfolge angesichts weltweiter großer Konkurrenz immer schwieriger zu kalkulieren sind. Damit steigen auch die Gefahren unerlaubter Manipulation. Dopingversuchungen sind insofern im System des heutigen Hochleistungssportes quasi angelegt.

Bei der derzeitigen ökonomischen Logik des Spitzensports verdienen immer weniger Akteure immer mehr Geld. Dabei entsprechen hohe Antrittsgelder, Prämien und Sponsorenzahlungen nicht den Maßstäben einer funktionierenden und leistungsgerechten Ökonomie. Dies trifft zwar in eklatanter Weise z.B. für den Fußball zu, aber auch in der LA gehen international sechs- und siebenstellige Summen über den Tisch. Dieser Wahnsinn korrespondiert mit z.T. prekärer und nicht auskömmlicher Honorierung der zweiten und dritten Reihe erfolgversprechender Talente. Man kann sich kaum wundern, wenn vor diesem Hintergrund manche junge Menschen den dornigen Weg in den Spitzensport abbrechen.

Für die LA sind vor allem das Dopingproblem und die massiv gewachsene Kommerzialisierung relevant. Dazu kommen die schwieriger gewordene Mitgliedergewinnung und – vor allem im älteren Jugendbereich – die Mitgliederbindung. Ich kann diese Problemlagen hier nur kurz skizzieren (sie würden jeweils eigene Vorträge verdienen), im letzten Teil meiner Ausführungen will ich dann einige strategische Anmerkungen zur Verbesserung und Lösungsvorschläge unterbreiten.

Die Gefährdung unseres Sports durch die Versuchungen zum Doping sind offensichtlich. Bei repräsentativen Befragungen assoziieren mehr als 30% der Befragten die LA mit Doping (Dabei ist es kein Trost, dass es beim Radfahren noch deutlich mehr sind). Der hohe Druck zur Manipulation auf Athleten/innen  wird deutlich aus einem authentischen Statement eines bekannten deutschen Kugelstoßers, das zwar schon etwas zurückliegt, aber – so denke ich – immer noch z.T. Gültigkeit hat. Er sagte wörtlich: „Dopste, wirste gesperrt, dopste nicht, kannste gleich zu Hause bleiben.“

In Verbänden und Vereinen herrscht nach meiner Erfahrung, neben den selbstverständlichen Lippenbekenntnissen gegen das Doping, zu oft die Hoffnung, dass das Problem unter der Decke bleibt oder sich im Einzelfall von selbst löst. Die öffentliche Kommunikation ist zu defensiv, dabei kann der Imageverlust durch Dopingaffinität und Dopingskandale natürlich auch Sponsorenleistungen gefährden. Der DLV und seine Landesverbände haben in den vergangenen Jahren viel unternommen, aber von einer Lösung sind wir weit entfernt. Neben einem mehr oder weniger gut funktionierenden Kontrollsystem und einem effizienten Antidopinggesetz gibt es im Bereich der Prävention noch etliche weitgehend ungenutzte Möglichkeiten (später dazu Näheres).

Zur Kommerzialisierung: Wie in vielen anderen gesellschaftlichen Bereichen auch, bestimmen im Spitzensport Marktorientierung und kommerzialisierte Verwertung in vielen Feldern die Realität. In hochprofessionalisierten Sportarten ist nicht mehr der sportliche Inhalt, sondern der Profit die eigentliche Ratio. Nur zwei Beispiele: Englische Fußball-Mannschaften sind im Besitz von Scheichs oder Oligarchen; im alpinen Skirennsport geht das beste Material an Mannschaften derjenigen Nationen, deren Märkte als nächste erschlossen werden sollen.

In attraktiven Dienstleistungsbereichen des Sports hat sich die kommerzielle Konkurrenz der Sportvereine nicht nur etabliert, sondern den Vereinen den Rang abgelaufen (Fitness, Tanzen, fernöstliche Kampfsportarten, vielfältige Gesundheitssportangebote etc.). Große internationale Sportartikelfirmen oder Konsortien beglücken die deutsche Sportlandschaft mit kommerziellen Implantaten. Künstlich – und nicht von unten gewachsen -  entstehen neue Sportrealitäten mit oft überraschendem Publikumserfolg: Streetball (Reebok);  Inline Skating (K2) , Mädchen-Street-Soccer (Nike), Skateboarden etc.

Die gesamte Entwicklung wird verständlich, wenn man sich klar macht, dass allein die private Nachfrage nach Sportwaren und -dienstleistungen in Deutschland jährlich über 30 Mrd. € beträgt und dass der Anteil des Sports am Bruttosozialprodukt bei vorsichtiger Berechnung etwa 1,4% ausmacht und damit die Wertschöpfung der Landwirtschaft oder der mineralöl-verarbeitenden Industrie erreicht. Dass der Markt bei solchen Größenordnungen den Sport  und seine Gewinnmöglichkeiten nicht Amateuren und Idealisten überlässt, ist leicht einsehbar.

Entscheidend zur Kommerzialisierung tragen die (elektronischen) Medien bei. In ihnen nimmt die Berichterstattung über Sport einen breiten Raum ein. Hierbei ist allerdings eine große Diskrepanz zwischen der Alltagsrealität des Sports und seinem Bild in den Medien, vor allem im Fernsehen, festzustellen. Die Darstellung nur weniger Sportarten, die Konzentration auf einen kleinen Teil des Hochleistungssports und seine Stars, die Vernachlässigung des Breitensports und der täglichen Arbeit in den Vereinen – insgesamt eine „Boulevardisierung“ des Sports in den Medien -  schaden dem Image des gesamten Sports und damit  seinen wichtigen sozialen und pädagogischen Funktionen. Diese völlig der Realität widersprechende falsche Gewichtung in der Mediendarstellung sorgt dafür, dass nur wenige telegene Sportarten immer reicher, der Rest eher ärmer wird.

Die Konzentration der Berichterstattung auf Stars und ihre Geschichten führt für den gesamten Sport - und damit auch für die LA - immer mehr zu dem, was man nennen könnte: „The winner takes it all“. Die ungleiche Verteilung der eh knappen Finanzressourcen hat z.B. zum Sterben vieler traditioneller LA-Meetings geführt, die nicht mehr in der Lage waren (und sind), die Forderungen der Stars zu erfüllen.

Der Star, die Show und die Sensationen werden wichtiger als das sportliche Ereignis und seine Hintergründe. Der Showsport – so sagen uns Medienforscher – hat teilweise die Entertainment-Formen früherer Jahre abgelöst.

Im Sprachgebrauch hat sich ein Bedeutungswandel von Begriffen vollzogen, dem man sich fast nur noch satirisch nähern kann:

Von Millionen Menschen betriebene Sportarten wie Schwimmen, Volleyball oder Tischtennis, aber auch manchmal  die LA, werden in der Mediendiskussion als sog. „Randsportarten“  mit weniger Sendewert bezeichnet, während wirkliche Randsportarten wie Skispringen, Formel 1 Rennsport u.a., die auf der ganzen Welt nur von wenigen hundert Aktiven betrieben werden (können), eine hohe TV – Präsenz haben. Um trotzdem ins TV zu kommen, versuchen immer mehr Sportverbände, sich den Diktaten der Fernsehmacher anzupassen. Sie denken über neue Regeln nach, über  fernsehgerechtere, d.h. werbegerechtere Gestaltung. Der Moderne Fünfkampf verändert ständig sein Gesicht und der DTTB war, wie auch andere bereit, sich mit hohen sechstelligen Summen an den Produktionskosten des Spartensenders DSF zu beteiligen, um überhaupt Fernsehpräsenz zu bekommen. Experten sagen uns, dass diese Entwicklung vor allem darauf beruht, dass Deutschland einer der umkämpftesten Fernsehmärkte der Welt ist. Die Sender glauben, Sportarten mit geringerem  Zuschauerinteresse nicht zeigen zu können, weil sie Quote verlieren. Im Programm findet kaum noch Niederschlag, was nicht dem Geschmack der Mehrheit entspricht.

Als Vertreter der Sportministerkonferenz der Länder habe ich bei Tagungen zum Thema „Sport und Medien“ oft mit meinem früheren Laufkollegen Wolf-Dieter Poschmann gestritten, dabei hatte er zwei Seelen in seiner Brust. Auch er litt unter dem geringen Sendeanteil der LA, verteidigte aber tapfer den Quotendruck, unter dem auch sein Sender stand. Die Auseinandersetzung in der Medienpolitik über diese Frage geht weiter, aber ich bin der Meinung, dass ein spannendes Stück Sportfernsehen, weg von Starrummel und den üblichen Quotenrennern, genauso attraktiv sein kann wie die oft banalen und manchmal peinlichen Inszenierungsformen heutiger Sportsendungen.

Ich möchte mich jetzt den Zukunftsperspektiven und strategischen Möglichkeiten zur (weiteren) Verbesserung der Lage der LA in Vereinen und Verbänden zuwenden. Eine Grundfrage ist, ob die LA bei der Jugend noch attraktiv, zeitgemäß und konkurrenzfähig zu anderen Sportarten und Beschäftigungsformen ist. Denn die Zukunft der LA liegt – dazu muss man kein Visionär sei – in der Jugendarbeit. Bei Kindern haben im täglichen Spiel Laufen, Springen und Werfen weiterhin einen hohen Stellenwert, ebenso (in den meisten Fällen) im Schulsport. Der große Knick mit Abbrechern im jährlich fünfstelligen Bereich liegt an der Schwelle zum Leistungs- und Hochleistungssport zwischen ca. 15 u. 19 Jahren.

Das liegt natürlich am Wandel der Interessen von Jugendlichen. Aber alle Untersuchungen zeigen, dass neben der Freizeitbeschäftigung „Freunde treffen“ (klar an 1. Stelle) an 2. Stelle weiterhin der Sport liegt. Befragungen zeigen, das z.B. Skateboard, Snowboardfahren, Tauchen, oder Bungee-Jumping als primäre Wunschsportarten genannt werden, fragt man aber nach den wirklich ausgeübten Sportarten ergeben sich andere Zahlen: Radfahren (70%); Schwimmen (61%); Ballspiele (31%) und dann schon Laufen/Joggen mit 30%.

Das gibt uns den Hinweis, dass es sinnvoll und vielleicht erfolgversprechend wäre, die verschiedenen Sparten der Laufbewegung noch stärker in die Vereinsarbeit zu integrieren. Hier liegt neben der klassischen Stadion-LA ein noch z.T. unbeackertes Feld der Mitgliedergewinnung und -bindung.

Bei Abbrecherbefragungen nennen Jugendliche als wichtigsten Grund: „keine Zeit (mehr)“. Das stimmt natürlich nur relativ, nicht absolut. Sie haben andere Interessen, Dinge, die sie mehr befriedigen. Wichtig ist es also, Rahmenbedingungen zu schaffen, die den Jugendlichen auch in der Wettkampf- oder Hochleistungs-LA  Zufriedenheit schaffen und Sinngebung vermitteln. Man hört oft, die Jugend sei zu wenig leistungsbereit, zu weich oder auch zu faul für konsequentes Training. Wenn ich z.B. Skateboarder oder Inliner an der Hauptwache in Frankfurt stundenlang schwierige und artistische Bewegungsteile üben sehe, kommt mir das eher nicht so vor.

Das Entscheidende ist, Erlebniswelten für die Jugendlichen zu schaffen. Rahmenbedingungen wie gutes Training und gute Trainingsorte, gute Trainer/innen und ein gelungenes Zeitbudget sind ebenso wichtig. Diese Erlebniswelten und diese „Nestwärme“ müssen attraktiver sein als potentielle Konkurrenzangebote. Das gibt es durchaus in vielen unserer Vereine und Trainingsgruppen. Nicht vergessen darf man allerdings, dass Spitzentalente auch eine individuelle Betreuung benötigen. Dazu ist viel Zusammenarbeit und Kommunikation zwischen Heimtrainern, Landestrainern und Bundestrainern wichtig. Etwas, das nach meiner Beobachtung oft, aber nicht immer klappt. Um die Abbrecherquote niedrig zu halten, ist darüber hinaus eine funktionierende „Duale Karriere“ unabdingbar, also eine möglichst harmonische Verbindung zwischen Training, Wettkämpfen, Schule, Ausbildung, Studium und Beruf . (Dies hier nur als Stichwort, dazu wäre ein eigener Vortrag sinnvoll). Mit den Laufbahnberatern an den OSP hat der deutsche Spitzensport hierfür ein meist gut funktionierendes Instrument geschaffen.

Einige kurze Anmerkungen zum Zurückdrängen der Doping-Problematik, lösen werden wir dieses Problem kaum können:

Wichtig ist, dass das Thema Doping aktiv und offen diskutiert wird und nicht nur hinter vorgehaltener Hand. „Dopingverharmloser“ müssen dabei benannt und kritisiert werden.

DOSB und BMI müssen bei der Fördereinstufung der Verbände die inter-nationale Dopingsituation in der jeweiligen Sportart mehr als bisher – bzw. überhaupt erst einmal – berücksichtigen. Athleten/innen beklagen zu Recht die mangelnde Chancengleichheit im internationalen Vergleich. In einigen medaillenstarken Ländern – nicht zuletzt  in der LA – sind funktionierende Dopingkontrollsysteme nicht vorhanden oder verdienen diesen Namen nicht. Ständiger politischer Druck durch die Politik und die Sportorgani-sationen – möglichst in enger Abstimmung mit ähnlich denkenden Staaten können die bestehende Chancenungleichheit vielleicht Schritt für Schritt abbauen.

Es gibt einfach zu viele Beispiele von Weltmeistern oder Olympiasiegern, die – über viele Monate unsichtbar – in Abgeschiedenheit trainieren und dann wie Phönix aus der Asche die Medaillen gewinnen.

Die erste, aber unvermeidliche Erkenntnis aus diesem Dilemma – die zu-gleich eine bittere Wahrheit für das Streben nach internationalen Erfolgen ist – wartet in Deutschland noch darauf   von staatlichen Sportpolitikern wie von Sportfunktionären deutlich und offiziell ausgesprochen zu werden: „Ehrlicher Antidopingkampf  bedeutet weniger Medaillen!“ Erst wenn diese Wahrheit verinnerlicht ist  und wenn ihre Implikationen ernst ge- nommen werden (z.B. Weiterförderung sauberer, aber dadurch weniger erfolgreicher Sportler/Verbände, schonungslose Nachverfolgung unserer eigenen, verdächtigen Erfolgsathleten), erst dann können  Strategien entwickelt werden,  welche die beiden angestrebten Ziele „hoher sportlicher Erfolg“ und „ehrlicher Antidopingkampf“ erfolgversprechend miteinander verbinden. Das bisher vorherrschende Prinzip „organisierter Verantwortungslosigkeit“  muss durch eine kohärente Gesamtpolitik einschließlich entsprechender gesetz-licher Rahmenbedingungen ersetzt werden.

Neben dem Kontrollsystem unter der Federführung der NADA - auf das wir wenig Einfluss haben - ist das wichtigste Aktionsfeld gegen Doping die Prävention. Hier können auch Verbände und die Vereine vor Ort eine Menge tun. Dazu nur einige Beispiele (auch dies wäre abendfüllendes Programm):

  • Unabhängige Beauftragte für Dopingprävention mit Recherche- und Interventionsmöglichkeiten in allen Verbänden
  • Einbeziehung aller Heimtrainer in die Antidopingmassnahmen der Verbände.
  • Sensibilisierung aller Zielgruppen gegen den Missbrauch von Nahrungsergänzungsmitteln (oft Vorstufe zum Doping) und Schmerzmedikamenten. Konsequente Absage von Sponsoren aus diesem Bereich.
  • Zumindest partielle Abkoppelung der Trainerbezahlung vom Erfolg der betreuten Athleten, vor allem im Jugendbereich. Anerkennung (Boni !?) für beispielhaftes Dopingverhalten.
  • Unabhängige Antidopingbeauftragte an allen OSP (nicht der OSP-Leiter oder der OSP-Arzt!).

Abschließend einige Bemerkungen, wie wir mit der fortschreitenden Kommerzialisierung im Sport und in der LA umgehen können. Ganz ehrlich: Ich bin wenig optimistisch, dass wir diese Entwicklung aufhalten oder gar zurückdrehen können. Patentrezepte fehlen, aber ich würde ganz persönlich den Rat geben, nicht alles mitzumachen, was am Markt leider gang und gäbe ist. Gute Arbeit im Verein machen (wie eben kurz beschrieben), aber sich dem Überbietungswettbewerb um Athleten/innen mit möglichst hohen Geldversprechen in Konkurrenz zu anderen Vereinen einfach mal entziehen. Ich weiß, dass das im Einzelfall oft schwerfällt und auch idealistisch klingt, aber die Spirale der Kommerzialisierung kann nur durch eigenes Handeln/Nichthandeln durchbrochen werden.

Wenn ich mich jetzt für Ihr Zuhören bedanke, könnte es sein, dass sie Einiges als (zu) negativ empfunden haben, aber ich hoffe, dass Sie gespürt haben, dass es mir letztlich nicht um die Probleme, sondern um eine gute Zukunft für die LA ging und geht. Dazu müssen wir alle versuchen, vor- handene Probleme zu lösen, aber immer die Schönheit unserer Sportart im Auge behalten.

erstellt von Dr. Franz-Josef Kemper

Jubiläums-Partner